

holz, lasiert / 130x3x2 cm / 2015
Kurzmärchen von Georg Matuschkowitz – Stehender
„Ein junger Mann saß auf einer Holzbank unter einem alten Schwarzholzbaum, der seine weit ausladenden Äste in die umgebende Landschaft streckte. „Was soll ich nur tun?“, murmelte er. Er erhob sich und blickte in die Ferne. In diesem Augenblick blinzelte die goldene Nachmittagssonne hinter den Wolken hervor, traf auf den Körper des Mannes und warf einen langen, schmalen Schatten hinter ihm auf die Erde.
Der junge Mann machte sich schließlich auf seinen Weg zurück ins Dorf, und da er sich nicht umdrehte bemerkte er nicht, dass sein Schatten hinter ihm einfach im Gras liegen geblieben war. Das schmale, dunkle, scheinbar unbelebte Schattenwesen dachte nicht viel, und sprechen konnte es auch nicht. Doch es nahm seine Umwelt genau war, es hörte den Hirschkäfer krabbeln, es sah die Wolken über den Himmel ziehen und es konnte sogar den Duft des faulenden, braunen Herbstlaubes riechen.
Tage und Nächte verstrichen, doch der Schatten blieb, wo er war. Die Zwergenältesten besuchten den Ort, entfachten ein großes Lagerfeuer unter dem mächtigen Baum und feierten den Moment der Sonnenwende. Als der König der Zwerge, Morlin Kupferbart, zu seinem Volk sprach und die Zwerge voller Ehrfurcht über dessen Worte nickten, da nickte der Schatten mit: Die Worte des Zwerges verwandelten sich für ihn in die Bilder einer Welt, die er nicht kannte, niemals zuvor gesehen hatte und doch so gerne besucht hätte. Ein verliebter Jüngling kam und ging, seine Trauer sprang auf den Schatten über, Sorgenfalten gruben sich in dessen Gesicht, unsichtbare Tränen liefen seine Wangen herab und tauchten den Ort in den Glanz eines unsichtbaren Tränenmeeres. Gesandte des Volkes der Winzlinge querten den Ort an einem heißen Sommertag, ließen sich im Schatten des Schwarzholzbaumes nieder und schliefen bis ein dunkelroter Vollmond die Umgebung in ein rötlich silbernes Licht tauchte. Die Träume der Winzlinge bildeten kleine, bunte Bilderblasen, die wie von Geisterhand in den Himmel aufstiegen und dabei heller und heller in allen Farben dieser Welt zu leuchten begannen. Der Schatten, dunkel wie er war, wurde kurz eifersüchtig auf all die glänzenden Farben, wünschte sich in den Himmel, und doch entschied er, dass der Anblick der Blasen so schön war, dass er nicht traurig sein musste. Und als es schließlich die Feenkönigin selbst war, die an dem Ort vorbeikam, um in der warmen Abendluft ihr Herz zu ergründen, da, ja da, war es das Herz des Schattens, das auf einmal zu schlagen begann und dem Leben ein neues zu Hause bot.
Besucher kamen und gingen, doch den Schatten erkannten sie nie. Oft stiegen sie über seinen Körper hinweg, manchmal berührten sie unbemerkt seine Gliedmaßen, doch keiner erkannte, dass ebendort ein Objekt, ein Wesen, ein Schatten lag. Erst als ein Künstler, ein Bildhauer, ein Narr des Augenblickes den Ort besuchte, da fiel ihm das schwarze Wesen mit den dunklen Augen, den unsichtbaren Tränen und der gelebten Stille im Gras auf. Er berührte ihn, fuhr mit seinen Fingern über dessen unwirklichen Körper hinweg, spürte dessen Herz und erkannte das Leben im scheinbar leblosen Objekt. Er wollte den Schatten aufheben, halten, umarmen, alleine der Schatten wusste, dass er an diesen Ort gefesselt war, bis sein Spiegelbild ihn wieder finden würde. Den Bildhauer ließ der Anblick des Schattens nicht mehr los. Zu Hause, in seiner Werkstatt, da bildete er dessen Abbild in Form einer stehenden, schmalen Holzfigur nach. „Stehender“, nannte er die Figur zufrieden, als er sein vollendetes Werk schließlich betrachtete. „Ich bin mir sicher, dass ich dem Wunsch des Schattens entsprochen habe, kann er doch nun der Welt stehend entgegen sehen!“
Auf der Wiese, hoch oben über dem Dorf, da lächelte der Schatten vor sich hin. „Ein Mensch!“ dachte er, „da war ein Mensch gewesen, der mich erkannt hatte!“ In dieser Nach träumte der Schatten erstmals davon, dass er sich bald wieder mit seinem Spiegelbild vereinigen würde, an einem Tag, an dem die Nachmittagssonne einmal mehr die Welt in ihr wunderschönes Licht tauchen sollte…
(Gewidmet den Werken des wundervollen Bildhauers Karl Volonte –…Ursus Piscis, www.tales-on-demand.com)